Nach einer Aussage der Harvard Business School werden jedes Jahr fast 30.000 neue Produkte eingeführt, von denen aber 95% im Markt scheitern. Wenn wir davon ausgehen, dass diese Produkte ordentlich konstruiert und hergestellt wurden, muss die Ursache für diese schlechte Erfolgsquote in der fehlerhaften Konzipierung der Produkte liegen. Die Entscheidung, welche Produkte entwickelt werden, ist die Aufgabe der ersten Innovationsphase; sie ist also kritisch für den Erfolg eines Unternehmens.
Was ist die erste Innovationsphase?
Die Funktion der ersten Innovationsphase
In der ersten Innovationsphase (Front End of Innovation) werden Gelegenheiten für zukünftige Innovationen entdeckt und bewertet. Diese Innovationen sind typischerweise neue oder verbesserte Produkte und Dienstleistungen; sie können aber auch neue Geschäftsmodelle oder Arbeitsprozesse sein.
Das Ergebnis der ersten Phase sind ausgearbeitete Vorschläge, über die die Geschäftsleitung befinden kann. Genehmigte Vorschläge kommen in die nächste Innovationsphase, in der die Produkte und Dienstleistungen entwickelt und schließlich verwirklicht bzw. vermarktet werden.
Warum ist die erste Innovationsphase wichtig?
Das Ziel der ersten Innovationsphase ist das Unternehmen auf die Zukunft vorzubereiten. Das kann zum Beispiel bedeuten…
- Mit einer neuen Lösung schneller am Markt zu sein, als der Wettbewerb
- Bei neuen Technologien den Anschluss nicht zu verpassen
- Auf Änderungen in der Rechtslage oder im Marktumfeld vorbereitet zu sein
- Neue oder veränderte Kundenbedürfnisse bedienen zu können
Je schneller die Dynamik eines Marktes, desto mehr sind Faktoren wie diese für den Unternehmenserfolg entscheidend. Als Vorsorgemaßnahme betrachtet, reduziert die erste Innovationsphase das Risiko, ins Hintertreffen zu geraten. Als Proaktivmaßnahme schafft sie die Voraussetzung für zukünftige Wettbewerbsvorteile.
The ‚Fuzzy‘ Front End of Innovation
Diese erste Innovationsphase wird gelegentlich auch als Fuzzy Front End of Innovation bezeichnet. ‚Fuzzy‘ bedeutet unscharf oder undeutlich. Der Name bringt zum Ausdruck, dass es in dieser Phase viele Ungewissheiten gibt:
- Viele Zukunftsfaktoren sind unbekannt.
- Man weiß oft nicht, was man sucht.
- Der Zufall spielt eine große Rolle.
- Planung und Erfolgsmessung sind schwierig.
- Man kann nicht vorhersagen, wie das Ergebnis aussehen wird.
Dies Eigenschaften sind aus Management-Sicht unerwünscht, und sie stehen in einem starken Kontrast zu anderen, eher beherrschbaren Unternehmensprozessen.
Der Aufbau der ersten Innovationsphase
Das Front End of Innovation besteht aus drei Phasen:
- Scouting. Innovationspotenziale und Innovationsnotwendigkeiten werden gesucht und gesammelt.
- Ideenfindung. Aus den Scouting-Ergebnissen werden Ideen für neue Produkte und Dienstleistungen entwickelt.
- Ideenbewertung. Die Ideen werden bewertet und priorisiert, damit eine Entscheidung möglich wird.
Scouting
Ein Innovationsprozess startet immer mit dem Suchen von Innovationspotenzialen. Diese Aktivität wird auch Opportunity Identification genannt. Ein Innovationspotenzial ist eine neu entdeckte Chance für eine Innovation, zum Beispiel:
- Neue oder veränderte Kundenbedürfnisse
- Änderungen im Marktumfeld
- Neue Technologien
- Gesellschaftliche Trends
Das Ziel der Fuzzy Front End of Innovation ist, möglichst klar beschriebene Innovationspotenziale zu identifizieren. Am Ende dieser Phase sollte klar sein, für welche Innovationsfelder Ideen gesucht werden sollen.
Quellen von Innovationspotenzialen
Es gibt viele mögliche Quellen für Innovationsgelegenheiten. Einige von ihnen sind marktspezifisch; dagegen gibt es auch Quellen, die immer relevant sind:
- Wettbewerber: (Neue Produkte, eingereichte Patente, …)
- Kunden (Neue Bedürfnisse, ungelöste Probleme, …)
- Neue Technologien und Methoden (KI, Data Analysis, …)
- Externe Experten (Universitäten, Forschungsinstitute, Geschäftspartner, …)
- Änderungen im Umfeld (Gesellschaft, Rechtslage, …)
Zwei Werkzeuge für spezielle Situationen sind die Blue Ocean Strategy und Wege aus der Commodity Trap.
Ideenfindung
In dieser Phase werden die Ideen produziert, die sich aus den Innovationsgelegenheiten der Scouting-Phase ergeben. Diese Ideen liefern Antworten auf Fragen wie…
- Mit was für einem Produkt könnten wir die neue Kundenerwartung […] bedienen?
- Wie könnten wir unsere Dienstleistung ausweiten, um die zu erwartende Anforderung […] zu erfüllen?
- Mit was für einem Geschäftsmodell bleiben wir wettbewerbsfähig angesichts der Ankündigungen der Wettbewerber […] und […]?
- Wie können wir die Technologie […] einsetzen, um den Prozess […] leistungsfähiger zu machen?
Im ersten Moment bestehen diese Ideen oft aus kaum mehr als einem kurzen Satz. Sie werden nach und nach ergänzt, damit ein vollständiges Bild entsteht. Für diese Ausarbeitung der Ideen sind die Fragen vorgegeben. Bei einer Produktidee könnte diese Fragen zum Beispiel sein:
- Wer ist die Zielgruppe für dieses Produkt?
- Welche Kundenvorteile bietet dieses Produkt? Wie signifikant sind diese Vorteile?
- Welchen Aufwand hat ein Kunde, dieses Produkt zu nutzen?
- Inwiefern passt dieses Produkt zu unserem Angebotsportfolio?
- Besitzen wir alle notwendigen Ressourcen, um dieses Produkt realisieren zu können?
Eine ausgebaute Idee kann mehrere Seiten Text umfassen und auch von Marktrecherchen, Ergebnissen von Kundeninterviews oder einem Business-Plan begleitet sein. Aus einer einfachen Rohidee ist eine Entscheidungsvorlage für das Management geworden.
Ideenbewertung
Der Abschluss der ersten Innovationsphase besteht aus der Ideenbewertung und der Ideenauswahl. Jede Idee wird entsprechend eines vordefinierten Kriterienkatalogs evaluiert. Typische Kriterien für ein B2B-Produkt sind:
- Erwartetes Marktpotenzial
- Erwartete Umsatzrendite
- Passfähigkeit zu Wahrnehmung des Unternehmens im Markt
- Passfähigkeit zur Unternehmensstrategie
- Kosten und Dauer der Entwicklung
- Stärke des Alleinstellungsmerkmals
Auf der Basis dieser Evaluation wird die Freigabe für den Übergang in die Entwicklungsphase vergeben. Ideen, die scheitern, aber Potenzial besitzen, werden überarbeitet. Die anderen werden verworfen.
Tools für die erste Innovationsphase
Das Innovationsradar
Das Innovationsradar ist ein Visualisierungswerkzeug für die Scouting-Phase. Das Radar ist aus konzentrischen Kreisen aufgebaut, die für unterschiedliche zeitliche Entfernungen stehen. Sektoren, die an Kuchenstücke erinnern, stellen unterschiedliche Kategorien von Zukunftsfaktoren dar.
Die konzentrischen Kreise heißen oft (von außen nach innen):
- Beobachten (Observe). Das Thema ist noch nicht reif genug, um etwas damit zu unternehmen. Es wird beobachtet.
- Bewerten (Evaluate). Das Thema soll bezüglich seines Potenzials bewertet werden.
- Vorbereiten (Prepare). Die Vorbereitungen (z.B. technische Tests, Business-Pläne, Produktionsplanung) für die Anwendung beginnen.
- Anwenden (Adopt). Das Thema wird übernommen (Das Produkt wird entwickelt/Der Wechsel zur neuen Technologie wird vollzogen/ …)
Das Radar wird traditionell nur für Technologien eingesetzt. BMW hat ein sehr interessantes Technologieradar veröffentlicht. Es lässt sich aber für jede Art von Faktor verwenden, zum Beispiel:
- Aktivitäten der Konkurrenz
- Politik und Gesellschaft
- Markttrends
- Informations- und Kommunikationstechnologie
- Branchenspezifische Technologien
Der Innovationsmanager aktualisiert das Radar regelmäßig und startet rechtzeitig die notwendigen Aktivitäten wie Kundeninterviews oder Marktrecherchen.
Fazit
- Die erste Innovationsphase ist entscheidend für die zukünftige Konkurrenzfähigkeit eines Unternehmens.
- Die erste Innovationsphase ist fuzzy – das heißt, sie ist durch ein hohes Maß an Ungewissheit charakterisiert, und das Ergebnis ist wenig vorhersehbar.
- Ein Unternehmen muss Scouting betreiben – das heißt immer auf dem Laufenden sein, was sich die Kunden wünschen, was der Wettbewerb macht und wie sich das allgemeine Umfeld ändert.
- Es ist wichtig, über eine zuverlässige Ideenfindung und Ideenbewertung zu verfügen, damit aus den gescouteten Innovationsgelegenheiten erfolgversprechende Ideen werden und die richtigen Ideen zur Weiterentwicklung ausgewählt werden.
Links
Kompaktwissen Innovationsmanagement
Zuletzt aktualisiert am 21. Juni 2024 von Graham Horton